Entscheiden ohne Qual der Wahl – befragen Sie Ihr „inneres Team“
Eine zuverlässige Methode, für sich selbst den richtigen Weg zu finden
Von Siegfried Schrotta
Beim Entscheiden durch „Systemisches Konsensierens“ wird nicht nach dem Mehrheitsprinzip abgestimmt, sondern es werden zuerst viele Lösungsvorschläge formuliert und danach anhand des Gruppenwiderstands gemessen, welcher Vorschlag dem Konsens am nächsten kommt. Konsensieren eignet sich auch hervorragend für die persönliche Entscheidungsfindung: Unentschlossenheit oder auch innere Konflikte können Sie damit überwinden, indem Sie zuerst nach Friedemann Schulz von Thun Ihr „inneres Team“ bilden und dann durch Konsensieren jenen Lösungsvorschlag ermitteln, der vom gesamten „inneren Team“ am wenigsten abgelehnt wird. Schulz von Thun bestätigt, dass Konsensieren mit dem „inneren Team“eine „interessante Spielart der inneren Ratsversammlung“ darstellt.
Die vielen Aufgaben, die uns das Leben stellt, fordern uns ständig zu neuen Entscheidungen heraus. Ohne zu entscheiden sind wir unfähig zu handeln. Doch meist stehen wir vor mehreren Wahlmöglichkeiten, die überlegt sein wollen. Nur selten können wir von allen Optionen genau vorhersagen, wohin sie uns letztlich führen werden. Manchmal müssen wir sofort entscheiden, in anderen Fällen haben wir Bedenkzeit. Was aber, wenn die möglichen Handlungsalternativen wie Wegweiser in verschiedene Richtungen weisen? Welcher Weg ist der richtige?
Die Vielzahl unserer Gedanken, Gefühle, Werthaltungen, Wünsche, Hoffnungen, Befürchtungen und Einwände kann gelegentlich in einem verwirrenden Kampf der Motive enden: „Sobald ich mich für das eine entscheide, verzichte ich auf alles andere“ – „Soll ich nachgeben oder mich durchsetzen?“ – „Könnte ich klüger entscheiden?“ – „Bin ich dem überhaupt gewachsen?“ – „Soll ich vorsichtig sein?“ – „Soll ich viel riskieren?“ usw.
Wenn schwerwiegende Entscheidungen zur Neuorientierung herausfordern, kann es vorkommen, dass wir uns vor Unentschlossenheit wie gelähmt fühlen. In dieser Lage hilft es, alle Entscheidungsmöglichkeiten, die uns aufs Erste in den Sinn kommen, aufzuschreiben, ohne sie vorschnell zu beurteilen oder zu verwerfen. Bei diesem ersten Schritt gilt es kühlen Kopf zu bewahren, um der Phantasie freien Lauf zu lassen. Vor allem dürfen wir uns nicht vorschnell zu Ja-Nein-Entscheidungen hinreißen lassen.
Der Kampf der Motive
Versetzen wir uns – stellvertretend für ähnliche Situationen – in eine Person, die schon an der Grenze ihrer Kräfte arbeitet. Ob Mann oder Frau, ändert nichts an den folgenden Überlegungen, aber nennen wir unsere Protagonistin Anna. Sie nimmt an einer Bürgerversammlung teil und wird aufgrund ihrer klugen Ansichten gebeten, den Vorsitz zu übernehmen. Als sie diese Aufgabe energievoll in die Hand nimmt, kommt die nächste Bitte, sie solle weiterhin die Sitzungen leiten und Kontakte mit Behörden und Medien aufnehmen, denn sie zeige Organisationstalent und wirksames öffentliches Auftreten.
Zweifellos ehrt dieses Angebot; und es warten völlig neue Erfahrungen auf unsere tüchtige Anna. Sie fragt sich: „Soll ich dieses Ehrenamt annehmen, obwohl ich schon so eingespannt bin?“ Vernünftigerweise bittet sie zunächst um Bedenkzeit.
Was kommt ihr zuhause in aller Ruhe in den Sinn? „Ich habe seit langem meine Familie sträflich vernachlässigt, bin immer spät heimgekommen und habe mir auch noch übers Wochenende Arbeit mit nach Hause genommen. Es war ganz und gar nicht richtig, mir auch in den
Urlaub Arbeit mitzunehmen, statt besser auf die Wünsche unserer Kinder einzugehen. Gewiss, sie sind seit Jahren daran gewöhnt. Aber jetzt dieses interessante Angebot. Das kann und will ich nicht ablehnen. Es würde mich in jeder Hinsicht weiterbringen. Schade, dass mir immer die Zeit davonläuft …
Hier zeigt sich bereits ein innerer Konflikt, der nach Neuorientierung verlangt. Dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun zufolge sollen wir uns nicht den ersten Gefühlsregungen ausliefern, sondern die inneren Wortmeldungen genau beobachten. Sie zeigen uns verschiedene Aspekte unserer Persönlichkeit, als ob sich verschiedene Personen in uns melden würden. Wenn wir genau genug hinhören, können wir die sich widersprechenden Einflüsterungen, die uns anfangs verwirren, immer deutlicher auseinanderhalten. Manche Stimmen melden sich laut und sofort, die anderen leise und erst nach und nach.
Das wird besonders deutlich, wenn wir uns die möglichen Entscheidungen einzeln vor Augen führen und dabei beobachten, welche Empfindungen und Einwände sie auslösen. Spielen wir einige von Annas Motiven durch: Dem „Erfolgsmenschen“ in ihr widerstrebt es ganz entschieden, das ehrenvolle Angebot abzulehnen. So etwas Wichtiges darf man einfach nicht versäumen. Ihrer „Elternsicht“ hingegen ist um die Familie leid, die noch mehr vernachlässigt würde. Ihre „Abenteuerlust“ setzt sich darüber hinweg. Sie macht bereits Pläne, wie sie bei Behörden und in den Medien auftreten würde …
Die wachsende Unschlüssigkeit wirft Anna schließlich auf die Frage zurück, was in ihrem Leben wirklich zählt. Wie kann sie in dieser Situation mit sich selbst soweit klarkommen, dass die endgültige Entscheidung überzeugen wird und keine Unzufriedenheit zurückbleibt? Die innere Stimme sagt ihr zwar, sie solle zurückstecken und dürfe sich nicht noch etwas aufladen, doch dann werden wieder ganz andere Stimmen laut. Nach und nach dämmert ihr, wie sehr sie bisher ihre persönliche Selbstverwirklichung in ungebremstem Karrierestreben ausgelebt hat. Mit Blick auf die mögliche neue Aufgabe erscheint es ihr jetzt geradezu rücksichtslos und kurzsichtig, nur an sich zu denken und sich nicht als Teil der Familie, der Gesellschaft oder auch der Natur zu sehen. Die Freiheit, die sie sich bisher genommen hat, ist auf persönlichen Erfolg, nicht auf ein geglücktes Zusammenleben mit ihrem sozialen Umfeld ausgerichtet gewesen; von dem sie, wie sie sich jetzt eingestehen muss, bisher immer getragen worden ist. Wie lange noch?
Das Innere Team
Jetzt könnte sich der Konflikt zuspitzen, ja vielleicht sogar bei Anna der Verdacht aufkommen, ihre innere Zerrissenheit sei nicht mehr ganz normal. Schulz von Thun zeigt jedoch, dass dieser innere Kampf keine Ausnahmeerscheinung ist, sondern ein menschliches Wesensmerkmal. Er hat herausgefunden und in vielen Beispielen belegt, dass wir die Stimmen oder Persönlichkeitsanteile, die sich zu Wort melden, wie echte Personen eines realen Teams auffassen können. Ihm verdanken wir die Entdeckung des „inneren Teams“.
Die Kunst, in den inneren Konflikt einzugreifen und Ordnung zu schaffen, besteht demnach zuallererst in einer gelungenen Teambildung. Es gilt, die einzelnen Mitglieder des Teams durch besonders charakteristische Namen zu identifizieren und in ihrer Funktion ernstzunehmen. Dazu gehört auch die aufrichtige Integration ungeliebter Persönlichkeitsanteile. Wer immer sich in der speziellen Situation zu Wort meldet, muss gehört werden. Auch extreme Positionen und Lösungsansätze müssen ohne Vorverurteilung und Ausgrenzung zugelassen werden. Schulz von Thun konnte zeigen, dass die Gruppendynamik dieses inneren Teams erstaunliche Analogien zu realen Gruppen aufweist.
Das folgende Bild zeigt, welche Persönlichkeitsanteile sich bei Anna mit verschiedenen Wünschen gemeldet haben und wie sie diese durch treffende Namen als ihre Teammitglieder charakterisiert hat.
Anna – genauer: ihr übergeordnetes „Ich“ – wird nach gelungener Teambildung zur Führungskraft ihres inneren Teams. Sie muss verhandeln und dabei erkennen, wer sich vordrängt, wer sich zurückhält und wo die Ursache des Konfliktes liegt. Schließlich wird sie versuchen, im Einklang mit dem Team zu einer klaren Entscheidung zu kommen.
Das mag bei wenig tiefgehenden Problemen eine leicht bewältigbare Aufgabe sein. Manchmal kann es jedoch wie in realen Gruppen äußerst schwierig werden, im inneren Team einen Interessenskonflikt aufzulösen. Die Lebensumstände können uns zum Beispiel in Situationen drängen, die unsere Wertvorstellungen verletzen oder gar zur Gewissensfrage werden. Auch in dieser Lage muss sich das „Ich“ als Führungskraft bewusst bleiben, dass es alle Teile seiner Persönlichkeit ohne Verdrängungen anhören und neutral behandeln soll.
Begleitende Hilfe in Extremfällen
Bei extremen inneren Konflikten, in denen sich eine Person nicht mehr zu helfen weiß, kann die Führungsaufgabe durch fachliche Begleitung unterstützt werden. Die Mediatorin Elisabeth Nagl-Zehetner hat folgende Erfahrung gemacht: Ein „Mensch, der sich in einer Sackgasse sieht, blendet viele interessante Ideen aus, die zur Lösung seines Problems beitragen könnten. Er tut dies völlig unbewusst, da er durch Stress und innere Blockaden einfach nicht mehr unbeschwert kreativ sein kann.“ Daher sieht Frau Nagl-Zehetner ihre Aufgabe als Mediatorin darin, „Problemlösungen zu ermöglichen, die alle Facetten, Talente und Möglichkeiten der Klientin oder des Klienten berücksichtigen.“Sie hilft deshalb bei der Bildung des inneren Teams, damit möglichst viele Vorschläge entstehen können.
Da Frau Nagl-Zehetner auch Anwenderin des SK-Prinzips® ist und daher dessen konfliktlösende Wirkung kennt, kam sie (übrigens als erste Mediatorin) auf die Idee, die schwierige Führungsaufgabe durch Konsensieren zu erleichtern. Sie berichtet von einem Unternehmer der – knapp vor dem Burnout – auf diesem Weg zu einer von ihm nicht erwarteten Lösung gefunden hat.
Die einfühlsame Lösungssuche
Da Anna durch berufliche Entscheidungsprozesse mit dem „Systemischen Konsensprinzip“ vertraut ist, entschließt sie sich, diesesWerkzeug zu nützen, um ihre widersprüchlichen Motive, Ideen und Vorschläge auch ohne fremde Hilfe besser beurteilen zu können. Dadurch ist gewährleistet, dass interessante Ideen, die sonst vielleicht unbewusst ausgeblendet werden, berücksichtigt bleiben und ihre Bewertung finden.
Um ganz konkrete Lösungsvorschläge zu erhalten, versetzt sich Anna gedanklich hintereinander in die einzelnen „Teammitglieder“ (Persönlichkeitsanteile) mit der Frage: „Was würde ich tun, wenn ich ausschließlich nur wie dieser Teil meiner Persönlichkeit geartet wäre?“Die Vorschläge, die aus diesen speziellen Blickwinkeln auftauchen, notiert sie in eine „Konsensierungstabelle“ (siehe Abbildung ganz unten). Dabei entdeckt sie Alternativen, die sie bisher nicht gesehen hat und andererseits auch geheimste Absichten, die sie niemandem gerne anvertrauen würde.
Als sie mit dem Erfolgsmenschen in ihrem Team beginnt, muss sie sich eingestehen, dass dieser Teil ihrer Persönlichkeit alle Anforderungen, die außerhalb des Berufs an sie herangetragen werden – ohne Unterschied – als Störung empfindet und daher abwehrt. Aus dieser Sicht würde sie am liebsten in den Beruf flüchten.
Die Lösungsvorschläge des Erfolgsmenschen, die da zum Vorschein kommen, lauten:
Vorschlag A: „Mich im Beruf noch mehr einsetzen, um schneller Karriere zu machen“
Vorschlag B: „Das angebotene Ehrenamt annehmen“
Nun meldet sich jedoch Annas Elternsicht mit dringenden Warnungen, die in weitere Lösungsvorschläge münden:
Vorschlag C: „Mehr Aufmerksamkeit und Zeit für die Familie“
Vorschlag D: „Dich der Probleme unserer Kinder ernsthaft annehmen“
Vorschlag E: „Öfters gemeinsam Ausflüge machen“
Vorschlag F: „Nicht zu spät nachhause kommen“
Vorschlag G:„Nie wieder Arbeit in den Urlaub mitnehmen“
Daraufhin macht die von Ordnungsliebe getragene Persönlichkeit in Annas Team auf überfällige Aufgaben aufmerksam:
Vorschlag H: „Keller und Dachboden müssen endlich aufgeräumt werden“
Vorschlag I: „Die Wohnung sollte ausgemalt werden“
Vorschlag J: „Das nächste Familienfest muss vorbereitet werden“
Vorschlag K: „Einen Videofilm über die letzten Jahre zusammenstellen“
Die Idealistin in Anna will die Zeit anders nutzen und bringt als
Vorschlag L: „Setze dich für die Gesellschaft ein, nimm das Ehrenamt an, verlange eine Assistentin oder Sekretärin für administrative Arbeiten“
Nun meldet sich auch noch Annas Kindanteil mit
Vorschlag M: „Mit den Kindern spielen und Sport betreiben“
Und zuletzt fordert die Lebenslust mehr Zeit für schöne Erlebnisse:
Vorschlag N: „Öfters gemeinsam ein heiteres Theaterstück oder einen Film ansehen, Tanzabende besuchen“.
In der Realität können noch mehr widersprüchliche Vorschläge auftauchen. Für die Darstellung der Methode genügen uns hier diese wenigen Wortmeldungen. Die ursprüngliche JA-NEIN-Frage hat jedenfalls zu einer unerwartet großen Lösungsvielfalt geführt.
Die Suche nach der annehmbarsten Lösung
Da es Anna als Führungskraft ihres „inneren Teams“ bereits gelungen ist, von einzelnen „Team-Mitgliedern“ Vorschläge zu erhalten, sollte es ihr auch möglich sein, Konfliktmanagement wie mit einem realen Team zu betreiben. Ohne SK-Prinzip® stünde sie jetzt vor der schwierigen Aufgabe, diese widersprüchlichen Vorschläge zu koordinieren; oder besser noch: durch eine integrierende Vision zusammenzuführen, um mit sich selbst „ins Reine“ zu kommen.
An diesem kritischen Punkt ist der innere Konflikt keineswegs behoben. Denn aus der jeweils spezialisierten Sicht der einzelnen Teammitglieder sind deren Vorschläge durchaus begründbar. Das macht erneut unentschlossen. Einzelne Wünsche zu erfüllen, weil sie teilweise angenehm wären, würde die Qual der Wahl nicht erleichtern.
Die Messung des Gruppenwiderstands
In dieser Phase neuerlicher Unentschlossenheit kann Anna in die wesentlich einfachere Rolle der SK-Moderatorin schlüpfen, indem sie die Einzelschritte des Konsensierens einhält. Die Messung des Gruppenwiderstands hat den Vorteil, keine Wortgefechte von Teammitgliedern schlichten zu müssen, sich also nicht auf den Kampf der Motive einzulassen .
Vor der Messung nimmt Anna noch die sogenannte „Null-Lösung“ als eine mögliche Option hinzu, also
Vorschlag O: „Nichts ändern. Alles soll so bleiben, wie es ist.“
Für Anna würde das bedeuten, weiterzumachen wie bisher, also alles hintanzustellen, was nicht der Karriere dient.
Um den Gruppenwiderstand ihres Teams gegen die einzelnen Vorschläge zu erhalten, wird
Anna nun die Einwände aller „Teammitglieder“ gegen die einzelnen Vorschläge messen. Das erfordert gedankliche „Kleinarbeit“ in aller Ruhe. Doch diese geringe Mühe lohnt sich aus zwei Gründen: Unsere unschlüssige Anna lernt sich selbst noch besser kennen, denn die Messwerte werden ihr einen präzisen Einblick in ihre Persönlichkeitsstruktur liefern. Und sie wird mit großer Genauigkeit herausfinden, wie ihre Gesamtpersönlichkeit den Konflikt beurteilt.
Für ihre Messung definiert Anna zum Beispiel eine „Einwand-Skala“ mit Werten von 0 bis 5:
0: ich habe nichts dagegen
1: ich habe leichte Bedenken
2: ich habe ernste Einwände
3: ich habe starke Zweifel
4: ich wehre mich dagegen
5: ich lehne das entschieden ab
Anna versetzt sich nun nochmals der Reihe nach in die einzelnen Teammitglieder (Persönlichkeitsanteile) und ermittelt aus der jeweils speziellen Sicht deren Widerstandswerte gegen jeden der Vorschläge mittels folgender Frage: „Wie stark wäre mein Einwand gegen diesen Vorschlag, wenn ich nur diesen speziellen Teil meiner Persönlichkeit in mir tragen würde, in den ich mich gerade vertieft habe?“
Wenn sie sich zum Beispiel voll auf ihr Kindheits-Ich einlässt, wehrt sie sich gegen das übertriebene Karrierestreben. Sie trägt daher für Vorschlag A in der Spalte Kindheitsanteil eine 4 ein (siehe „Konsensierungstabelle“ unten). Doch sie hat aus dieser Sicht nichts dagegen, öfters gemeinsam ins Theater, Kino oder tanzen zu gehen. Daher trägt sie 0 bei Vorschlag N ein. Der Erfolgsmensch in ihr sieht das ganz anders: Vorschlag A erhält aus Sicht des ehrgeizigen Erfolgsstrebens den Widerstand 0, Vorschlag N den Wert 2.
Anna, die in diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann, was herauskommen wird, behält sich vorsichtshalber die endgültige Entscheidung selbst vor. Sie will sich nicht an ein rechnerisches Ergebnis ausliefern. Deshalb sagt sie sich zur Beruhigung, das sei nur eine Entscheidungsvorbereitung. Immerhin nimmt sie sich vor, vernünftig zu bleiben, und sich später an der Rangordnung der Vorschläge zu orientieren, selbst wenn ihr das nicht angenehm sein sollte.
Die Widerstandswerte, die jeder Vorschlag erhalten hat, sind schnell addiert, und die Lösung ist damit auch schon gefunden: Der Vorschlag A („mehr Karriere“) hat in Summe 14 Widerstandspunkte erhalten und wird daher von dem „inneren Team“ insgesamt am stärksten abgelehnt.
Anna ist von der Eindeutigkeit des Ergebnisses einigermaßen überrascht. Zwar hatten sich auch früher schon von Zeit zu Zeit Schuldgefühle gegenüber der Familie gemeldet, doch die mussten immer der vorgeschobenen Überzeugung weichen, dass sie den beruflichen Erfolg „ja nur“ für das Wohl ihrer Familie anstrebe. Was aber jetzt aus der Tiefe ihrer Seele zum Vorschein kommt, stellt alles auf den Kopf: Die ersten sechs Ränge auf ihrer Tabelle gelten alle der Familie. „Urlaub ohne Arbeit“ (Vorschlag G), „mehr um die Kinder kümmern“ (Vorschlag D), „mehr Familie“ (Vorschlag C) – das sind jene Lösungen, die auf den geringsten Widerstand des Teams stoßen. Dann erst kommt, auf Rang sieben, das Ehrenamt, und das auch nur dann, wenn es gelingt, Assistenz zu bekommen.
Aus ihrer ursprünglich unschlüssigen Gefühlslage heraus hätte sich Anna wahrscheinlich nicht eingestehen wollen, wie radikal sie ihre Lebenssituation ändern muss, um mit sich selbst einig und mit den anderen glücklich zu werden. Aber durch die ausführliche Arbeit mit allen Mitgliedern ihres „inneren Teams“ wurde ihr Bewusstsein dafür geschärft. Obwohl sie den Prozess im Grunde nur neutral „moderiert“ hatte, wurde daraus eine auf ihr Lebensproblem bezogene Selbstanalyse mit therapeutischer Wirkung. Und das ohne zermürbende innere Zerissenheit.
Übrigens zeigt die Null-Lösung (Vorschlag O), wo die Grenze der Zumutbarkeit liegt. Nichts an ihrem Verhalten zu ändern, das weiß Anna jetzt, würde sie und ihre Familie unglücklich machen. Noch schlechter als die Null-Lösung schneidet zu ihrem Erstaunen nur ihr ursprünglicher Geheimfavorit, Vorschlag A, ab. Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr, dass Anna ihr verbissenes Karrierestreben aufgeben muss, damit noch wichtigere Aufgaben mehr Raum erhalten. Möglicherweise wird sie dann entspannter, gefestigter, erfahrener und sogar erfolgreicher sein.
Die weiteren Konsequenzen
Einige Ergebnisse kann Anna sofort umsetzen. Es wird ihr zum Beispiel leicht möglich sein, in Zukunft keine Büroarbeit in den Urlaub mitzunehmen und früher heimzukommen. Ihr „inneres Team“ hat die notwendigen Entscheidungen vorbereitet. Nun hat sie zwei Möglichkeiten: Sie kann sich entweder mit dem Ergebnis zufrieden geben, um anhand der Reihung der Vorschläge einen Maßnahmenkatalog zu erstellen. Oder sie kann das Ergebnis als Zwischenwertung auffassen. Als einen Hinweis, in welcher Richtung sie weiter nach Lösungen suchen soll, um mit ihrem Team noch brach liegendes Entwicklungspotenzial freizusetzen.
Wenn Anna in einer zweiten Runde nochmals in die Rollen der einzelnen Teammitglieder schlüpft, die jetzt wissen, für welches Ziel sie miteinander kooperieren sollen, können ihr spontan neue Lösungen einfallen, die integrierend wirken und vielleicht sogar Synergien nützen. So könnten zum Beispiel neue Ideen für den Beruf gefunden und auch das Ehrenamt damit in Verbindung gebracht werden. Sport und heitere Erlebnisse, ja sogar die Ordnungsliebe, könnten der ganzen Familie wie auch der eigenen Leistungsfähigkeit dienen.
Jedenfalls ist es Anna mit Hilfe des SK-Prinzips gelungen, ihre ursprüngliche Unentschlossenheit zu überwinden und ihr Leben mit neuer Zuversicht und Sinn zu erfüllen. Indem sie die Stimmen ihres „inneren Teams“ ernstgenommen hat, konnte sich ihr Selbstbild erweitern. Gerade jene empfindsamen Persönlichkeitsanteile, die sonst nie zu Wort kommen durften, haben den Panzer ihrer Verstandesbetonung aufgebrochen. Eine Seele voll Mitgefühl kam nun zum Vorschein, die aus ihrem innersten geistigen Kern die Kraft zu einer freudvollen Neuorientierung erhält.
Konsensierungstabelle:
Quellen:
Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden 3, Das „Innere Team“, 2008
Elisabeth Nagl-Zehetner, „Den Konsens finden mit sich selbst“ – im Buch: „Wie wir klüger entscheiden“ von Siegfried Schrotta (Hrsg.), 2011, StyriaPrint-Verlag.
Die Stufenzahl der Einwand-Skala kann dem Bedarf angepasst werden. Falls in einer anderen Situation andere Bezeichnungen geeigneter wären ist zu beachten, dass nur Einwände bzw. Widerstandswerte ausgedrückt werden dürfen. Die Skala darf keine Wünsche enthalten. Nur so können jene Lösungen gefunden werden, die den geringsten Gruppenwiderstand auslösen und damit dem Konsens am nächsten kommen. Zum Beispiel sind Schulnoten als Einwand-Skala ungeeignet. Sie drücken mit Ausnahme der schlechtesten Note nur Grade der Zufriedenheit aus.