Das kreative Potenzial in Bedenken und Widerstand
Eine kurze Einführung in das Systemische Konsensieren (SK)
Von Josef Maiwald und Tom Müller (24.09.2018)
Das übliche Schicksal der Minderheit
Von guten Demokraten wird verlangt, sich in Fällen, in denen sie mit ihrer Meinung zur Minderheit gehören, sich der Entscheidung der Mehrheit zu beugen. Dieses demokratische Prinzip wird hoch gehalten – meist mit dem Hinweis, dass Diktaturen ja noch ungerechter seien. Übersehen wird dabei, dass es „die eine“ Demokratie nicht gibt. Demokratische Systeme und Entscheidungsverfahren können mehr oder weniger gut sein können. Wahlen nach dem üblichen Mehrheitsprinzip haben methodisch eklatante Schwächen und es gibt längst bessere Alternativen1).
Unabhängig von methodischen Überlegungen haben Sie sicher schon erfahren, dass selbst Abstimmungen in kleinen Gruppen oft große Unzufriedenheit folgt, da sich die Überstimmten als Verlierer fühlen und verärgert sind, denn ihre berechtigten Interessen wurden nicht berücksichtigt. Diese Unzufriedenheit führt häufig dazu, dass Beschlüsse boykottiert werden, rechtliche Schritte folgen, und dass im Extremfall die Gruppe bei ihrer Aufgabe blockiert wird.
Mit Systemischem Konsensieren gewinnt Jeder
Vor der kurzen Methodenbeschreibung möchten wir die wichtigsten Vorzüge nennen, die wir aus 10-jähriger Praxis als Anwender von und Ausbilder für Systemisches Konsensieren bestätigen können:
- SK ist außerordentlich variabel und kann je nach Komplexität, Fragestellung und Tragweite des Ergebnisses situativ angepasst werden.
- Einwände oder Widerstände gegen vorhandene Vorschläge werden genutzt, um tragfähigere Vorschläge zu erarbeiten.
- Durch SK entwickelt sich ein konstruktives Klima in der Gruppe, das rücksichts¬volle Lösungen begünstigt; das Zusammengehörigkeitsgefühl wird gestärkt.
- Eine Entscheidung im Sinne der gemeinsamen Ziele und Werte sowie eine größtmögliche Annäherung an den Konsens werden möglich.
- Die Kreativität und kollektive Intelligenz der Gruppe wird genutzt.
- Oft findet die Gruppe zu einer kreativen Synergielösung, die zu erfolgreicheren Maßnahmen führt, als das, was einzelne Gruppenmitglieder davor im Sinn hatten.
- Es kommt immer zu einer Entscheidung. Vetorechte gibt es nicht, eine Blockierung ist nicht möglich.
- Nicht nur die Besprechungskultur ändert sich nachhaltig. Ob in Familie, Verein oder Unternehmen, auch Arbeitsklima und Miteinander bessern sich maßgeblich.
Einräumen müssen wir allerdings, dass sich unsere Erfahrungen auf Gruppen von unter 100 Personen beschränken. Ob sich die positiven Effekte auch bei einer deutlich größeren Personenzahl – wie etwa bei Bürgerentscheiden – zeigen, muss erst noch geprüft werden.
Eine kurze Anleitung
SK entwickelte sich aus Überlegungen von Siegried Schrotta und Erich Visotschnig, die als Systemanalytiker für IBM tätig waren. Mit ihrem im EDV-Kontext geschulten systemischen Blick fiel ihnen auf, dass Entscheidungsprozesse in Gruppen, die meistens auf die übliche Mehrheitsentscheidung hinauslaufen, systembedingt eine negative Dynamik entwickeln. Dissens und Streit werden begünstiget. Es scheint also fast normal zu sein, dass sich die Teilnehmer einer Diskussion in unterschiedliche, oft unversöhnliche Lager spalten. Die Kombination aus persönlichem Ehrgeiz, sich durchsetzen wollen und die methodische Herangehensweise ist dafür prädestiniert.
SK unterstützt das fatale Konkurrenzprinzip und den Durchsetzungswillen nicht (vgl. auch Artikel „Gemeinsinn macht Sinn“). SK setzt auf rücksichtsvolle Entscheidungen, die alle mittragen können2). Es geht also nicht darum, abweichende Meinungen per Mehrheitsbeschluss niederzumachen. Die allen SK-Methoden und -Werkzeugen zugrundeliegende Basis ist: Widerstand ernst nehmen und als kreatives Potenzial nutzen.
Die Herausforderung: Diese Grundhaltung wirklich zu verinnerlichen und Bedenken und Gegenargumente nicht als hinderliche Bremsblöcke zu empfinden ist nicht leicht. Durch SK bietet sich aber eine praktikable Methodik, bei der die Beteiligten immer wieder erleben, dass die vorgebrachten Bedenken ein guter Prüfstein und Stresstest für Lösungsvorschläge sind. Und häufig gelingt es, gerade durch die Gegenargumente gute Vorschläge deutlich zu verbessern.
Hier eine Analogie aus der Elektrotechnik: Sie haben sicher schon einen Dimmer bedient, der die Helligkeit von Lampen reguliert. In Haushalten hierzulande beträgt die Spannung 220 Volt. Durch den Dimmer regulieren Sie den elektrischen Widerstand. Je kleiner der Widerstand, desto heller leuchtet die Lampe.
In Gruppen ist es ähnlich: die beteiligten Menschen haben eine bestimmte Zeit und Energie zur Verfügung. Statt, wie üblich zu versuchen, die Motivation zu erhöhen, ist es genauso sinnvoll, Hürden und Hemmnisse zu entfernen. Genau hier setzt SK an. Bedenken und Widerstände werden aktiv aufgegriffen und nach Möglichkeit integriert.
Hier die Grundstruktur, die nach Bedarf verkürzt oder ausgebaut werden kann:
a) Formulieren einer geeigneten Fragestellung
b) Suche, bzw. Erarbeitung von Lösungsoptionen
c) Bewertung der Vorschläge, damit Messung des Konfliktpotenzials
d) Meinungsbild
e) ggf. strukturierte Diskussion auf der Basis des Meinungsbildes
g) Entscheidung der Gruppe (die, je nach der formalen Kompetenz der Gruppe, auch eine Empfehlung an Entscheider sein kann)
Entscheidend bei SK ist, dass über Lösungsoptionen nicht wie beim Mehrheitsverfahren abgestimmt wird. Beim SK bewertet jedes Gruppenmitglied jede Alternative, bei der Standardversion auf einer Skala von 0 bis 10. Da das Konfliktpotenzial gemessen werden soll, bedeutet 0 „es spricht nichts dagegen“, 10 „maximaler Widerstand, kommt für mich nicht in Frage“, die Zwischenwerte erlauben eine beliebige Abstufung.
Die folgende Abbildung zeigt so ein Meinungsbild. Bei diesem Fallbeispiel ging es um die Lösung eines langjährigen Disputes, ob und wie die Wege in einem Park neu gestaltet werden sollen.
Für den Lösungsprozess förderlich ist, dass relativ früh nach der Sammlung der Optionen eine Bewertung stattfinden kann. Das Meinungsbild zeigt nicht die Entscheidung, sondern den aktuellen Diskussionsstand. Die vielen hohen Werte für die Vorschläge „Hängebrücke“ und „Tunnel“ zeigen klar, dass diese Optionen kaum Chancen haben. Die Möglichkeit, „alles so lassen“ ist ebenso durchgefallen. Folglich zeichnet sich die Lösung in der ersten Reihe, ggf. in Kombination mit anderen, hochakzeptierten als realisierbar ab.
Derart gestaltete Lösungsprozesse werden von den Beteiligten als fair, transparent und fruchtbar erlebt. In SK-erfahrenen Gruppen ergibt es sich, dass gar keine Zahlen mehr zur Bewertung erhoben werden und das Verfahren immer weiter abgekürzt wird. Die zweitschnellste Variante ist die so genannte Einwandfrage: „Ich schlage vor … – gibt es dagegen Einwände?“. Wenn diese Frage ernst gemeint ist und keine Einwände geäußert werden, kann man sich einigermaßen sicher sein, dass alle mitgehen. Dem Argument „Ich hätte Euch gleich sagen können, dass das nicht funktioniert, aber ich war in der Minderheit“ ist die Basis entzogen.
Die schnellste Möglichkeit ist achtsamer Umgang mit möglichen Bedenken und Widerständen: Gibt es Teilnehmer, die beispielsweise die Stirn runzeln oder skeptisch schauen?
Leider können wir jetzt nicht sehen, ob Sie beim Lesen zustimmend genickt oder eher skeptisch geschaut haben. Doch würde es uns wundern, wenn Sie jetzt keine Fragen hätten. Die Ausbildung zum SK-Moderator dauert ja auch mehrere Tage. Und sogar gestandene Trainer und Mediatoren sagen, dass fünf Tage eher zu wenig sind, da SK vielfältige Möglichkeiten bietet. Es ist nicht ganz einfach, komplexe Lösungsprozesse so einzufädeln, dass sie möglichst schnell und mit wenig „Geburtswehen“ zu guten Ergebnissen führen.
Sind Sie jetzt neugierig geworden? Vielleicht mögen Sie noch mehr über SK lesen oder eine Veranstaltung besuchen? Es würde uns freuen. Denn die oben genannten Vorteile sprechen unseres Erachtens für sich.
Die Autoren:
Josef Maiwald aus München und Tom Müller aus Düsseldorf verfügen über langjährige Erfahrung als Organisations- & Personalentwickler, Trainer & Coaches, Mediatoren & Moderatoren. Ihre Begleitung, Beratung und Training unterstützt Unternehmer und Führungskräfte dabei, das Potenzial ihrer Mitarbeiter/innen zu entfalten und smarte Gruppenintelligenz zu fördern (www.smarterlife.de, www.gruppenintelligenz.de).
Anmerkungen
1) Wenn Sie sich für methodische Feinheiten interessieren, schreiben Sie uns eine Mail. Wir setzen uns dann gerne mit Ihnen in Verbindung (redaktion@smarterlife.de).
2) Falls Sie den Eindruck haben, bei SK riecht es nach faulen Kompromissen, gibt es noch einige Informationen, die vermitteln, dass das Gegenteil der Fall ist.
Quellen und Literatur
Maiwald, Josef: Smart entscheiden! Methoden und Strategien, die Sie voranbringen · privat, beruflich, gesellschaftlich. Holzkirchen: A-BiS GmbH, 2014
Maiwald, Josef: Smart entscheiden! Systemisches Konsensieren für Führungskräfte. Holzkirchen: A-BiS GmbH, 20182
Web:
www.smarterlife.de
Hier finden Sie weitere Artikel zum Thema und u.a. das so genannte „Akzeptanzbarometer“, das die berühmte Sonntagsfrage einmal ganz anders stellt.